Schnippselpoesie. Wie ich zu den Wortcollagen kam…
Oder kamen sie zu mir? Jedenfalls fand ich vor ein paar Jahren im Flur vor meinem Büro einen Bücherstapel, daneben ein Zettel: „Zu Verschenken“. Offenbar wollte jemand Bücher aussortieren. Obenauf lag ein abgegriffenes Taschenbuch mit orangefarbenem Einband. „Vater telefoniert mit den Fliegen“ stand in großen Buchstaben auf dem Titel. Irgendetwas faszinierte mich sofort. Die knallige Farbe? Die klare Grafik? Oder der rätselhafte Titel? Egal, ich nahm es mit nach Hause.
Das Buch beinhaltete Wortcollagen der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. Ich hatte einige ihrer Werke gelesen, aber keinen blassen Schimmer, dass sie Gedichte klebte. Denn das waren sie, diese merkwürdigen kleinen Gestalten aus ausgeschnittenen Worten und rätselhaften Bildern. Je länger ich blätterte, umso faszinierter war ich von der dichten Sprache, den versteckten Reimen und von der Optik.
Ich bekam große Lust, Herta Müllers Methode auszuprobieren. Ich schnappte mir eine Schere und schnitt Wörter aus Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen aus. Schob sie eine Weile auf dem Tisch hin und her und klebte sie dann in ein kleines Heft. Mein Wortschatz wuchs und wuchs, aber auch mein Gefühl, dass meine Werke längst nicht an die von Herta Müller heranreichten.
Der Zauber der Schnippsel
Aber mein Ehrgeiz war geweckt und ich nahm ihre Gedichte genauer unter die Lupe. Da fanden sich Reime, stand viel zwischen den Zeilen, herrschte mal düstere, mal übermütige Stimmung. Sie kombinierte Wörter höchst ungewöhnlich und erreichte so einen schwebenden Effekt ihrer kurzen, aber lyrischen Texte.
Etwa zur gleichen Zeit erschien ein neues Buch von ihr: „Im Heimweh ist ein blauer Saal“. Im Vorwort ist zu lesen, wie Herta Müller selbst dazu kam, Wortcollagen zu machen. Sie war es leid auf Reisen gekaufte Postkarten zu verschicken, schnitt mit der Nagelschere Wörter aus Zeitungen und Broschüren aus und klebte kurze Sätze auf. Und sie beschreibt im Vorwort, was für sie das Faszinosum daran ausmacht: der von vorneherein begrenzte Raum, der für das Geklebte vorhanden ist. Die strenge Form auf dem Papier. Die Größe, Form und Farbe der Buchstaben, die einen Beitrag zur Wirkung des Gedichtes leisten. Ein kleiner Reim, der sich einschleicht, aber nicht im Vordergrund steht. Eine Abbildung, die dem Text eine zusätzlich Ebene verleiht.
Ich fing, ihre Methode besser zu verstehen und ging spielerischer an die Sache heran. Ich füllte Kisten, Schubläden und bald Setzkästen mit Ausgeschnittenem. Klebte in Hefte, auf Blätter und in Journale . Erst im stillen Kämmerlein, dann aber wollten meine Collagen an die frische Luft. Seit 2019 traue ich mir, sie auf Instagram der Welt zu zeigen.
Und zwar erfolgreich. Bei den Wortlaut-Festivals 2020 und 2021 in Hannover habe ich Workshops dazu gegeben. Und im Herbst 2020 durfte ich die schönsten meiner Werke in der Buchhandlung annabee ausstellen.
Hast du auch Lust bekommen, Schnippselpoesie auszuprobieren? Dann lies meinen nächsten Blogbeitrag. Da gebe ich dir eine kleine Anleitung.